Mein kleiner Samuel
Als Gott Samuel schuf, ist ihm kein Fehler unterlaufen. Er hat nicht etwa ein Chromosom an der 18. Stelle vergessen, sondern sich gedacht: „Mein kleiner Liebling, dir gebe ich ein Extrachromosom, um zu Menschen zu sprechen, sie zu berühren und ihnen zu zeigen, wie wunderbar ich bin.“ Gott hatte für unseren kleinen Mann einen ganz besonderen Auftrag und den hat er innerhalb von 54 Tagen bereits ausgeführt.
Sein Auftrag war: Lass dich lieben. Samuel war bei seiner Geburt kleiner als Hannahs Puppen, er konnte nicht einmal alleine atmen. Oft kamen wir uns ziemlich hilflos vor, weil wir nichts für ihn tun konnten. Wir konnten ihn nur lieben. Mir hat jemand gesagt, ein Kind kurz nach der Geburt zu verlieren, wäre die größte Liebesaufforderung, weil man Liebe gibt und nichts zurückbekommt. Doch das stimmt so nicht. Samuel zu lieben, Stunden lang mit ihm da zu sitzen und ihn zu halten, ihn zu küssen, hat mir unbeschreiblich viel gegeben. Es hat mich verändert. Samuel hat mich zur Ruhe kommen lassen und meinen Blick wieder auf die wesentlichen Dinge gelenkt – weg von meinen To-Dos, Terminen, weg von meinen selbst erdachten Träumen. Es geht im Leben nicht darum, dass alles so kommt, wie ich es möchte und alle meine Wünsche in Erfüllung gehen. Samuel hat mich gelehrt, mich an dem zu freuen, was ich heute habe, wo ich heute bin. Denn das Heute ist Gottes Geschenk für mich. Morgen kommt ein neues.
Samuels Leben war aber nicht nur ein Geschenk für uns. Ich bin überzeugt davon, dass auch er es genossen hat. Den meisten Kindern mit seiner Erkrankung wird es nicht ermöglicht, es auszupacken und die Liebe der Eltern zu kosten. Samuels Leben war nicht frei von Leid, aber ich glaube, er hatte auch sehr viele schöne Momente, besonders das Kuscheln mit Papi und Mami.
Und so paradox es auch klingen mag, Samuels Krankheit hat mein Vertrauen in Gottes Treue und seine Souveränität nur gestärkt. Seine Nähe in diesen schwersten Stunden meines Lebens zu spüren, ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Auch wenn ich wünschte, unser kleiner Vogel wäre noch nicht davongeflogen, bin ich doch dankbar, dass Gott uns diese intensiven Momente geschenkt hat.
Außerdem ist mir klar geworden, dass ich keine Zeit mehr verschwenden will, mit irgendwelchen Dingen, die am Ende doch keine Bedeutung haben. Ich kam erst mal nicht damit klar, dass die Welt sich normal weiterdreht und alle anderen Menschen dieselben Dingen tun und über dieselben Dinge reden wie früher, während sich für uns alles geändert hat. Und dann habe ich die Entscheidung getroffen, da nicht mitzumachen. Das Leben ist zu kurz, um es zu vergeuden. Alles, was Samuel tat, und sein ständiges Auf und Ab hat tiefe Spuren in mir hinterlassen. Mir ist manchmal gar nicht bewusst, wie bedeutungsvoll scheinbare Kleinigkeiten sein können.
Samuel hat in 54 Tagen etwas geschafft, was vielen ein Leben lang nicht gelingt. Er hat seinen Auftrag ausgeführt. Er hat Menschen berührt und ermutigt. Er hinterlässt ein unbezahlbares Erbe hier auf Erden, indem er unseren Blick auf den Himmel gelenkt hat. Er hat ein großes Stück meines Herzens dorthin mitgenommen und jetzt freue ich mich noch mehr darauf.
Für jedes unserer Kinder habe ich eine Strophe zum Lied „Ja, Gott hat alle Kinder lieb“ geschrieben. Samuels Strophe lautet so:
„Ich bin der kleine Samuel und sitz‘ auf Gottes Schoß.
Mir geht‘s jetzt gut, ich bin Zuhaus‘ und warte hier auf euch.“
Lass dich lieben, lautete sein Auftrag. Samuel zu lieben, bedeutet für uns, ihn loszulassen und uns für ihn zu freuen, dass er jetzt am schönsten Ort sein kann – gesund und glücklich. Wie sehr er uns fehlt, wird uns jeden Tag mehr bewusst, doch bald sehen wir ihn wieder.